zur Erinnerung
Eis am Stiel und Roster vom Braterstand

Erschienen am 15.06.2019

Vor 100 Jahren öffnete in der Innenstadt ein Lokal, das sich in den Herzen der Chemnitzer einen festen Platz erobern sollte. Noch heute erinnern sich viele daran, obwohl es längst verschwunden ist.

Über Jahrzehnte hinweg eine Institution: Dörr's Schnellkaffee an der Brückenstraße. Ende der 1960er-Jahre wurde das Haus abgerissen. Die Geschichte des Lokals begann vor genau 100 Jahren.
Foto: Nachlass Fred Dörr

Es soll Chemnitzer geben, die haben den Duft der Bratwürste noch immer in der Nase: 1,30 Mark kostete die Portion Roster mit Sauerkraut und Salzkartoffeln, der täglich wechselnde Eintopf war schon für 65 Pfennige zu haben. Damals, im Karl-Max-Stadt der 1950er- und 1960er-Jahre, beim HO-Warenhaus - dem einstigen Schocken und heutigen Archäologiemuseum Smac - gleich ums Eck.

"Dörr's Schnellkaffee" nannte sich das Lokal, das mit seinem vergleichsweise bodenständigen Angebot und mit Eis aus eigener Produktion seinerzeit eine Institution der Innenstadt-Gastronomie darstellte. Ob in den beiden Gaststuben oder draußen am "Braterstand", einer Art Biergarten, ob großer oder kleiner Hunger - bei Dörr's kam im Grunde jeder auf seine Kosten, auch in schwierigeren Zeiten. So soll das Restaurant nach dem Zweiten Weltkrieg eines der ersten gewesen sein, in dem es wieder Suppe mit etwas Fleisch drin gab.

Begonnen aber hatte alles viel früher - am 15. Juni vor 100 Jahren. Inmitten der letzten Monate des Ersten Weltkrieges etablierten Paul Dörr und dessen Frau Margaretha "Dörr's Eispalast". Damals war das Lokal als "Creme-, Speise- und Fruchteiskonditorei" noch in der einstigen Friedrich-August-Straße ansässig - dort, wo heute die Galerie Roter Turm steht. Erst Mitte der 1930er-Jahre siedelte der Familienbetrieb an die Brückenstraße um, in ein Haus neben der einstigen Höheren Mädchenschule. Derzeit werden dort ein neuer Firmensitz für den Energieversorger Eins und ein Hotel gebaut.

Die Chemnitzerin Margitta Bölke (Jahrgang 1951) hat die Geschichte des Lokals vor einigen Jahren in einem Buch zusammengefasst, Titel: "Erinnerungen an 'Dörr's Schnellkaffee' und 'Eis-Dörr' in Chemnitz/Karl-Marx-Stadt". Bölke ist die Enkelin des Restaurantgründers und Tochter des langjährigen Betreibers, Fred Dörr. "Ich bin im Geschäft groß geworden, habe da schon als Kind immer mit ausgeholfen", erzählt sie.

Auf Volksfesten verkauften Dörrs Eis aus eigener Produktion.
Foto: A. Missbach /Archiv, M. Müller

Der mit zahlreichen Fotos aus dem Familienbestand illustrierte Band hat bei vielen Chemnitzern und Lokalgästen von einst Erinnerungen geweckt. Auch Fernsehsender wurden neugierig und berichteten. Daraufhin hätten sie jede Menge Reaktionen erreicht, erzählt Margitta Bölke. "Von Menschen, die ich bis dahin gar nicht kannte." Mittlerweile hat sie aus all den ihr zugetragenen Geschichten ein zweites Buch zusammengestellt. Es trägt den Titel "Unerwartete Ereignisse".

Die Begegnung mit Günter Nagel, Jahrgang 1925, gehört dazu. Er ist der Sohn des Inhabers jenes Vorgängerlokals an der Brückenstraße, das 1937, nach einem Umbau, zu "Dörr's Schnellkaffee" wurde. Es trug den Namen "Gallipoli" - nach einer Schlacht im Nordwesten der Türkei während des Ersten Weltkriegs. "Ich habe als Kind noch gesehen, wie sie das Schocken gebaut haben", erzählt der hochbetagte Senior, der heute in einer Chemnitzer Pflegeeinrichtung lebt. Auch an das im Lokal ausgeschenkte Mineralwasser der Marke "Sauerbrunnen" und an die ursprüngliche Inneneinrichtung des Cafés kann er sich noch gut erinnern - einschließlich eines elektrischen Klaviers. "Weihnachten stand da immer ein Baum, mit Silberfäden dran", so Günter Nagel.

Mit dem Verkauf des Hauses an einen neuen Eigentümer kam auch das Aus fürs "Gallipoli" und der Weg für den Einzug der Dörrs wurde frei. 30 Jahre lang, über Krieg und Systemwechsel hinweg, blieb die Brückenstraße 5 die Adresse des Cafés. Bis der Ausbau der benachbarten innerstädtischen Straßenzüge den Abriss des Gebäudes mit sich brachte. Während andere benachbarte Lokale wie die stadtbekannte Tanzbar Libelle auf Nimmerwiedersehen aus dem Stadtbild verschwanden, zogen Dörrs noch einmal um, an die Ecke Wilhelm-Pieck- (heute Theater-)/ Innere Klosterstraße. Dort, so Margitta Bölke, endete nach dem Tod ihrer Mutter Anfang der 1980er-Jahre das von ihrer Familie geschriebene Kapitel Chemnitzer Gastronomiegeschichte. Die Erinnerung daran aber lebt bis heute.

Die beiden Bücher "Erinnerung an Dörr's Schnellkaffee und Eis-Dörr in Chemnitz und Karl-Marx-Stadt" sowie "Unerwartete Ereignisse" von Margitta Bölke sind im Epubli-Verlag erschienen. Weitere Informationen dazu gibt es im Internet unter der Adresse www.margittab.jimdo.com


Quelle: FP vom 15.06.2019


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